Süddeutsche Zeitung Keeling Kurve

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Der letzte Artikel über die Keeling Kurve wurde am 17. Mai 2010 veröffentlicht.

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SZ, am 17. Mai 2010, 21:11 Uhr     Von Christopher Schrader

Klimawandel: Eine Kurve verändert die Welt

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Es ist der wichtigste Datensatz der Umweltforschung im 20. Jahrhundert:

Seit 50 Jahren zeichnen Geräte auf Hawaii den Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre auf. Die Messreihe ist das Lebenswerk von Charles Keeling.

Vom tropischen Zauber der Insel Hawaii ist auf dem Gipfel des Mauna Loa wenig zu spüren. In 3400 Metern Höhe stehen an der Nordflanke des Berges einige schmucklose Gebäude. Sie schützen Forscher und Instrumente einer meteorologischen Station vor der Witterung.

Der Mouna Loa auf Hawaii. Die Spitze des Vulkans schirmt das „Mauna Loa Observatory“ ab.

Hier oben kann es im Februar sowohl minus 17 Grad Celsius wie plus 27 Grad haben. Bisweilen pfeift starker Wind über das kahle Plateau, aber meistens säuselt er nur, wenn er von Süden kommt, wo die Spitze des Vulkans die Station abschirmt. Immerhin, der Blick ist phantastisch, weil das „Mauna Loa Observatory“ häufig über den Wolken liegt – und vor allem: Die Luft ist klar.

Das ist auch der Grund, warum hier seit genau fünfzig Jahren Messgeräte verfolgen, wie viel von dem Treibhausgas Kohlendioxid die Atmosphäre enthält. Sie sind im „Keeling Building“ installiert, benannt nach dem Initiator der außergewöhnlichen Messreihe, dem Chemiker Charles David Keeling von der Scripps Institution of Oceanography in La Jolla, einem Vorort von San Diego in Kalifornien.

Neben der Tür ist die Messkurve auf einer Bronzetafel eingraviert. Sie zeigt den unaufhaltsamen Anstieg der CO2-Werte seit Beginn der Messungen 1958, überlagert vom jährlichen Ein- und Ausatmen der Natur: Von Mai bis Oktober sinken die Werte, wenn Bäume und andere Pflanzen auf der Nordhalbkugel Kohlendioxid verbrauchen, weil sie wachsen und neue Blätter bekommen.

Den Rest des Jahres steigen die Werte wieder: Einjährige Pflanzen sterben, Blätter fallen und verrotten und geben das CO2 frei. Und jedes Jahr erreicht die Kurve im Mai einen neuen Höhepunkt, weil die vielen Milliarden Menschen der Erde Kohlendioxid aus ihren Auspuffen und Schornsteinen geblasen haben.

Die drei wichtigsten Experimente

Weil dieser Verlauf den Einfluss von Natur und Menschheit auf die globale Umwelt dokumentiert, ist die Keeling-Kurve ein zentrales Symbol des Klimawandels.

„Die Messreihe belegt, dass die Menschheit ihre planetarische Unschuld verloren hat: Sie verändert die Erde“, sagt Hans Joachim Schellnhuber, Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. „Es war die richtige Messung zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle.“ Keeling ist daher oft als „Vater der Klimaforschung“ bezeichnet worden.

„Ohne seine Arbeit wäre unser Wissen über den Klimawandel heute um zehn bis 20 Jahre weniger weit fortgeschritten, als es ist“, zitiert die BBC Andrew Manning vom britischen Wetterservice Met Office. Seine amerikanischen Kollegen von der Wetterbehörde Noaa, die das Mauna-Loa-Observatorium betreibt, nennen Keelings Daten den „unbestreitbaren Grundstein der Klimaforschung“.

Forscher rechnen die Messkurve vom Mauna Loa zu den drei wichtigsten Experimenten der Wissenschaftsgeschichte. Als Keeling 2005 starb, zählte sie zum Beispiel sein letzter Chef Charles Kennel auf, der Direktor von Scripps: Tycho Brahe hatte im 16. Jahrhundert die Planetenbewegungen aufgezeichnet und damit den Grundstein für Newtons Gravitationstheorie gelegt.

Albert Michelsons Messung der Lichtgeschwindigkeit Ende des 19. Jahrhunderts diente Einstein als Fundament der Relativitätstheorie. Und Keelings Arbeit seit 1958 führte zum heutigen Wissen über das Klima. „Die Messungen sind der wichtigste Datensatz der Umweltforschung im 20. Jahrhundert“, sagte Kennel.

Von all dem war wenig zu ahnen, als Kollegen von Keeling am Morgen des 27.März 1958 die kontinuierliche Messung des CO2 in der Luft auf dem Mauna Loa starteten.

Keeling selbst hatte von seinem damaligen Chef keine Reisegenehmigung bekommen; er kam im November des Jahres zum ersten Mal nach Hawaii. Er hatte schon in den Jahren vor 1958 wichtige Vorarbeiten geleistet, die Apparatur zusammengestellt, vor allem für das Messprogramm gekämpft und Geld dafür besorgt.

Die Wissenschaft wusste damals wenig über das Treibhausgas. Zwar hatte der Schwede Svante Arrhenius 1895 die Rolle von CO2 in der Atmosphäre theoretisch erklärt, aber verlässliche Messungen gab es nicht. Vor allem wusste niemand, wo das freigesetzte Kohlendioxid blieb, wie viel davon das Meer aufnahm.

Ermittelte Werte schwankten und steckten voller Messfehler, wie Keeling bald zeigen sollte. Er war der Überzeugung, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre weit weniger variabel sei als die Experten seiner Zeit annahmen.

Eine repräsentative Messung an einem geeigneten Ort habe daher große Aussagekraft. Und es sei auch lohnend, den CO2-Gehalt kontinuierlich zu messen, statt mit Stichproben im Abstand von Jahren, wie es sein damaliger Chef eigentlich wollte. Die Kurve zeigte dann bald, und zeigt bis heute, dass etwa 57 Prozent des freigesetzten CO2 in der Luft verbleiben. Doch in den ersten beiden Tagen lieferte das Gerät kaum verlässliche Daten, erst vom 29.März 1958 an konnten die Wissenschaftler die Anzeige auswerten.

Die erste abgelesene Zahl hatte Keeling ziemlich genau vorhergesagt: 313 ppm (parts per million). Unter jeweils einer Million Luftmoleküle befanden sich 313 Moleküle Kohlendioxid, also weniger als ein Drittel Promille. Später machte Keeling einen kleinen systematischen Fehler am Gerät aus, sodass der Durchschnittswert für die letzten Märztage korrigiert wurde und nun als 315,71 ppm in den Annalen steht.

50 Jahre später, im Februar 2008, ist der Wert um 70 Punkte auf 385,76 ppm gestiegen. Aus vielerlei Messungen an Luftbläschen, die in Eis eingeschlossen waren, wissen Klimaforscher zudem inzwischen, dass vor der Industrialisierung viele tausend Jahre lang etwa 280 ppm Kohlendioxid in der Luft schwebten, 35 Punkte unter Keelings erster Messung.

Die Menschheit hat diesen Basiswert also in weniger als 300 Jahren um 37 Prozent gesteigert, weil sie in Industrie und Verkehr Kohle, Öl und Gas verbrennt. Zwei Drittel der Zunahme sind erst in den vergangenen 50 Jahren eingetreten.

Sorgen am Anfang

Die ersten Indizien dafür hatte Keeling schon nach zwei Jahren gesehen. 1960 veröffentlichte er in der skandinavischen Fachzeitschrift Tellus die ersten Daten vom Mauna Loa. Darin beschrieb er die beiden zentralen Eigenschaften der eben erst gestarteten Kurve: Zum einen den Anstieg von Jahr zu Jahr.

„Dafür hätten frühere Wissenschaftler mit ihren Methoden wohl ein halbes Jahrhundert gebraucht“, sagt Steve Ryan von der Wetterbehörde Noaa. Zum anderen die Variation über das Jahr hinweg. Keeling war davon überrascht.

Die April-Werte waren höher als die März-Zahlen, die Mai-Daten lagen noch darüber. Dann gab es Stromausfälle, sodass es für Juni 1958 überhaupt keine Resultate gab. „Als die Messung im Juli weiterging, waren die Ergebnisse unter die März-Werte gefallen“, schrieb Keeling in seiner Autobiographie. „Ich begann mir Sorgen zu machen, dass die
Daten hoffnungslos sprunghaft sein könnten.“

Keeling fürchtete wohl, dass er sich mit seinen Ideen zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Doch dann begann sich der Zyklus im zweiten Jahr der Messungen zu wiederholen. Bald konnte der Forscher anhand von Vorstudien auch schlüssig erklären, was passierte – und warum die Schwankungen ihr Maximum im Mai erreichten. Pflanzen waren für den Effekt verantwortlich, wie Detailanalysen am aufgefangenen Kohlendioxid belegten.

Am Morgen des 27.März 1958 startete Charles Keeling die kontinuierliche Messung des CO2 in der Luft auf dem Mauna Loa.

Das stützte den plausiblen Gedanken, dass von diesem Monat an auf der gesamten Nordhalbkugel der CO2-Bedarf schlagartig zunahm, weil die Natur erwachte. Besonders in den ausgedehnten Wäldern von Sibirien und Kanada schlugen die Bäume aus.

Frühere Daten vom Treibhausgas hatten hingegen gezeigt, dass die Werte im Januar ihr Maximum erreichten. Keeling entlarvte das schnell als Fehler. Bodenmessungen erfassten oft CO2 aus Industriebetrieben, das unter einer winterlichen Inversionswetterlage hing.

Nur für acht Monate fehlen die Daten

Wenn sich dabei kältere Luftmassen über wärmere am Boden schieben, verteilt sich das lokal produzierte Kohlendioxid nicht mehr. Dieser Fehler konnte auf dem Mauna Loa, der über die pazifische Inversion hinausragte, nicht passieren. Zudem gab es keine Industrie weit und breit. Und die CO2-Ausdünstungen des Vulkans konnte man bei den Messungen leicht erkennen. Schon die Windrichtung zeigte, welche Daten in den Monatsdurchschnitt einfließen durften.

Nur für acht Monate während der 50 Jahre hat Keelings Apparatur keine Daten geliefert. Er hat sie immer wieder warten lassen und sich gegen eine Modernisierung der Geräte gesträubt.​​

Seit 1974 läuft darum parallel zu seinem Experiment ein Messprogramm der Wetterbehörde Noaa, für das heute Steve Ryan zuständig ist. Er beschreibt in einer Mischung aus Hochachtung und Frustration, wie Keeling seine Instrumente verteidigte.

„Er bestand darauf, den alten, anfälligen und relativ lauten Analysator zu behalten, der noch mit einer Vakuumröhre arbeitete. Er bestand darauf, dass die Daten per Hand von den Papierrollen übertragen wurden, wo Tintenschreiber die Messwerte aufgezeichnet hatten.“​

Doch Ralph Keeling verteidigt seinen Vater; auch er ist Professor am Scripps-Institut und hat die Leitung des CO2-Programms auf dem Mauna Loa übernommen. „Mein Vater hat gewusst, wie wichtig Kontinuität ist, wenn es um die Präzision einer Langzeitmessung geht.“​

Wer Komponenten austausche, müsse vorher mit altem und neuem Gerät aufwendige Doppelmessungen machen, um sicher zu gehen, dass die Daten zusammenpassen. „Außerdem hat er kurz vor seinem Tod noch selbst begonnen, die Apparatur umzurüsten. Es war keine Sturheit.“​

Keeling hatte einfach zu oft für den Fortgang seiner Messungen kämpfen müssen, um leichtfertig den Aufbau zu ändern. Besonders schwierig wurde es 1964, als der US-Kongress die Wetterbehörde zwang, Geld zu sparen.

Schnell wurde die von ihr finanzierte Stelle von Keelings Techniker auf Hawaii gestrichen. Drei Monate lang gab es keine Daten, bis die National Science Foundation Geld auftrieb.​

Später stand Keeling unter dem Druck, die als unwissenschaftlich betrachtete Langzeit-Beobachtung Regierungsstellen zu überlassen – und verteidigte seine Arbeit. Bis heute, sagt Ralph Keeling, muss sich das Scripps-Programm auf dem Markt der Forschungsförderung die Mittel zum Weitermachen besorgen.​

Erbfolge in der Wissenschaft

(Foto: SZ-Grafik, Quelle: Scripps Institution of Oceanography)​

Keeling Junior ist in den Job quasi hineingewachsen. Was sein Vater Wichtiges tat, wurde dem Sohn erst im Lauf der Zeit klar. Als er ungefähr zehn Jahre alt war, erinnert er sich heute, wusste er nur, dass sein Vater „irgendwas mit der Luft maß“.​

Darüber wunderte sich der Junge, der schließlich wusste, dass der Vater an einem ozeanografischen Institut arbeitete. Doch seinen Hang zur Wissenschaft nährten solche Rätsel, sodass er bald ein ähnliches Fach wie der Vater studierte.

Dann wagte er sich sogar an eine komplementäre Messung: die des Sauerstoffs in der Luft. Das verschlug ihn schließlich an das gleiche Institut wie seinen Vater; die Stelle habe er eher trotz als wegen der Verwandtschaft akzeptiert, sagt er. Und weil er nun dort war und etwas Ähnliches machte, übernahm er schließlich das CO2-Programm auf dem Mauna Loa, als sein Vater starb. Diese Erbfolge ist in der Wissenschaft eher selten.

Wie sein Vater wehrt sich Keeling gegen die Vorurteile über das reine Aufzeichnen von Daten aus der Umwelt. Wer nur Daten sammele, aber keine Experimente mache und keine Hypothesen teste, um Phänomene zu erklären, der betreibe keine Wissenschaft, sagen manche Kritiker. Sie wollen das Monitoring lieber Regierungsstellen überlassen.​

„Man kann die Forschung und den Betrieb der Apparatur nicht sauber trennen“, entgegnet Ralph Keeling dagegen jetzt in Science. „Bei den Mauna-Loa-Messungen hat es nie einen Punkt gegeben, von dem an die wissenschaftlichen Resultate abgenommen haben.“​

Keelings Kollege Euan Nisbet von der Universität London hat darum die Langzeit-Messung als das „Aschenputtel der Wissenschaft“ bezeichnet. Sie sei teuer und ungeliebt. „Glitzernde Preise bekommt man dafür nicht. Veröffentlichungen sind schwierig unterzubringen, erscheinen unregelmäßig und bleiben ungelesen“, schrieb er in Nature zum Jubiläum der Keeling-Kurve.​

Deren Namensgeber jedoch hat es wie im Märchen geschafft, große Erfolge zu erringen, viele Preise zu gewinnen und die Welt zu verändern.